Begegnung von Wort und Musik – Die Lieder von Jörg Zink
1981. Kirchentag Hamburg. 60.000 Zuhörer. Zum ersten Mal treffe ich dort Jörg Zink. Mitten im Frühsommer sprach er über die Worte des Weihnachtsengels „Fürchtet euch nicht. Siehe, ich verkündige euch große Freude. Denn euch ist heute der Retter geboren”. In Zinks Auslegung spürte ich seine tiefe Sehnsucht nach Frieden, „der nicht von Waffen, sondern nur von der Einsicht und dem Vertrauen der Menschen gesichert wird.“ Damals staunte ich, welche Stille sich nach diesen Worten ausbreitete. Nicht tosender Beifall setzte ein, sondern ein gemeinsames Schweigen, das die Brisanz der Weihnachtsbotschaft hörbar und sichtbar machte. Diese Symbolik prägte sich tief in mir ein: Wie damals, in der „Stillen (Heiligen) Nacht“, wurde an diesem Morgen Neues geboren, eine Vision für Frieden und Gerechtigkeit.
An jenem Morgen spielte ich zu seiner Bibelarbeit mit der Flöte das Lied der Friedenstaube. Von da an sollten sich unsere Wege häufig kreuzen. Viele Bibelarbeiten gestalteten wir beide gemeinsam auf den Deutschen Evangelischen Kirchentagen. In seinem Haus in Stuttgart saßen wir so manche Stunde zusammen. Bei diesen Gesprächen bekam ich einen Einblick in seine theologischen Gedanken. Ich selber bin Komponist und Musiker und hatte von Theologie so gut wie keine Ahnung. Zuhören, hineinhören, fragen: Das war es, was ich am Anfang unserer Begegnung erlebte. Ich wurde zum Lauschenden. Und ich fragte mich, wie eine musikalische Interpretation einer Bibelarbeit auf dem Kirchentag aussehen könnte. Das war eine Herausforderung. Ich wollte nicht nur einfach die Bibelarbeit musikalisch begleiten. Nein. Auch ich wollte die biblischen Texte in Tönen interpretieren und auslegen. Und so lernte ich aus den Gesprächen mit Jörg Zink vieles über die mystische Bedeutung von Wort und Musik.
Ein Gleichnis von Jörg Zink aus jener Zeit ist mir gut in Erinnerung geblieben: „Ich sitze in der hinteren Bankreihe einer romanischen Kirche. Vor mir erheben sich große Arkaden, von hohen Säulen gestützt. Ihre Bögen gleichen einer immerwährenden anmutigen Verbeugung. Ich folge mit meinen Augen den ruhenden Bewegungen. Die Bögen heben sich, senken sich und ruhen. Immer wieder. Wie eine Melodie, die ihre Bögen zieht. Nach einer Weile mache ich es ihnen nach. Wenn ich dem ansteigenden Bogen folge, atme ich ein. Bei der Abwärtsbewegung atme ich aus; und wird der Bogen gestützt, ruht mein Atem. Ich vollziehe das so lange, bis ich beim letzten Bogen ankomme. Nun erhebe ich meine Stimme und aus mir heraus klingt eine neue Musik. Meine Töne werden von dem Einatmen, dem Ausatmen und dem Ruhen getragen. Die Melodiebögen steigen, senken sich und haben Pause.“
In dieser Zeit wuchs in mir die Erkenntnis, dass es etwas vom Schönsten ist zu erleben wie eine Komposition entsteht. Das Wunder ist ja, dass erst einmal nichts da ist. Und aus diesem Nichts wachsen Töne zu Melodien. Die Melodien formen sich zu einem Klangbild, das in der Einmaligkeit seinen Sinn hat und stets Neues will.
Aus der Fülle unserer gemeinsamen Projekte möchte ich zwei Begegnungen herausgreifen, die unsere Arbeit prägen sollten.
Im Klang der Elemente – Vor mir sitzt einer und flötet
Wir schreiben das Jahr 1985. Das Jahr der Musik (Gedenken an das Geburtsjahr 1685 von Bach und Händel) und das Jahr der Jugend. Anlässlich dieser Ereignisse entstand in Stuttgart der Kulturkilometer. Jörg Zink und ich erhielten dafür den Auftrag, die vier Elemente in Wort und Klang umzusetzen. Bei einem vorbereitenden Gespräch fragte Jörg Zink speziell nach der Kunst des Flötenspiels. Ich erläuterte, wie der Ton auf einer Flöte entsteht, wie die Musik ihre innere, zeitliche und räumliche Ordnung hat.
Musik in Worten zu beschreiben, ist fast unmöglich. Angetan war ich bisher von den Worten über Musik aus dem Glasperlenspiel von Hermann Hesse. Doch nun formulierte Jörg Zink neue Gedanken über Musik, so als würde er meine Musik mit dem Herzen hören und als wäre jedes seiner Worte schon selbst Melodie, Harmonie und Rhythmus.
Über das Element Luft schrieb Jörg Zink damals:
„Vor mir sitzt einer und flötet. Sein Atem treibt ein Luftband gegen das Labium. Dort bricht es sich in Wirbeln, und die Luftsäule im Innenraum des Instruments dringt unter Kreisen und Schwingen ins Freie, der Ton öffnet sich zum Raum, schwingt in seiner Resonanz mit und wird am Ende aufgenommen in der Wirbelkammer des menschlichen Ohrs. …
Und je nachdem, was da schwingt, kann der Ton heilen oder verletzen, lebendig machen oder einlullen, wach machen oder verführen. Da werden Schichten der Seele und des Leibes erreicht, die uns sonst unerreichbar sind. Und manchmal ist Musik die Kraft, die unseren Empfindungen und Gefühlen allererst ihre Form gibt.
Schwingung aber entsteht nur, wo ein Widerstand ist. Würde der Gong keinen Widerstand bieten, so ginge der Schlegel durch ihn hindurch, und es geschähe nichts. Stieße der Atem nicht gegen die Kante im Mundstück der Flöte, so bliebe sie stumm. Indem ich Widerstand schaffe oder dem Widerstand begegne, schaffe ich Kraft.“
An einem Herbstabend im Jahre 1985 standen hundert Gongs in allen Größen in der Stuttgarter Leonhardskirche. Luft, Feuer, Wasser und Erde fanden nun in den Worten, im Spiel einer Flöte und den Gongklängen eine große Resonanz. Das Konzert der singenden Elemente erfüllte den ganzen Raum.
Der neue Hymnus – Ich möchte ein Lied versuchen
Ich möchte ein Lied versuchen, mein Lied.
Ich möchte dich rühmen,
dessen Stimme ich höre im Gesang aller Dinge.
(Jörg Zink)
Im Frühling 1990 betrat ich mit einem ganz speziellen Herzenswunsch Jörg Zinks Haus. Eigentlich war es kein Wunsch, sondern eine für mich schon längst überfällige Bitte und Wahrnehmung. „Wenn du schon die biblischen Psalmen so gekonnt in Worte kleidest, so ist es doch nur logisch, dass Lieder mit neuen Worten aus deiner Feder entstehen könnten, entstehen müssten.“ Und es geschah. Zwei Jahre lang eröffnete sich eine rege Liederwerkstatt. Textentwürfe. Melodien. Harmonien. Neu geschaffene Liedtexte wurden am Klavier im Wohnzimmer Zinks erstmals vertont. Wieder und wieder wurden Texte und Töne verworfen. Texten Reim und Rhythmus zu geben, ist die Kunst, Worte wahrlich zu verdichten. Wir schritten sogar die Rhythmen der Texte im Wohnzimmer ab. Konnten beim meditativen Dahinschreiten die Worte in uns einkehren? Worte und Melodiebögen wuchsen immer mehr zusammen. So entstanden über zwei Jahre hin Lieder, als seien sie Klanggebäude, geschaffen aus der engen Verbindung von Wort und Melodie.
Die Texte der Lieder sollten aus meiner Sicht nicht allein mit einer theologischen Lupe betrachtet werden. Sie sind ja Dichtung. Die Poesie ermöglicht uns Erfahrungen, die weit vor dem rationalen Erkennen liegen. Damals beschäftigten uns beide auch die Gedanken von Joachim Ernst Berendt. Er beschreibt in seinem Buch „Nada Brahma“ die Wechselwirkung zwischen Text und Musik. Er vergleicht die Melodie eines Liedes mit einem Mantra. Das Singen beschwört geradezu den Ursprung, den Urklang des Kosmischen. Im Singen vereinen sich Himmel und Erde. Musik ist somit Botschaft aus einer anderen Welt.
Diese spirituelle Wirklichkeit nun wollten Jörg Zink und ich in die neu zu schaffenden geistlichen Lieder hineinschreiben. Sie sollten einen Platz im spirituellen Leben der Menschen finden. In einfachen spirituellen Feiern, verwurzelt in den Festzeiten des Kirchenjahres. Ohne kirchliche Anbindung und religiöse Unterwürfigkeit. Ein Gottesbild für die Freiheit des Einzelnen. Ein Gottesbild, verstanden unter dem weiten Bogen dieser Erde – mit ihren vielfältigen spirituellen Erfahrungen.
Für mich ist die Musik im Lied die sinnhafte Trägerin des Wortes. Verlassenheit und Geborgenheit, Sehnsucht und Liebe, Angst und Vertrauen, Trauer und Frohmut, Erschöpfung und Schöpfung – Lieder, die wir singen, machen das Leben hörbar. Die Seele findet im Lied einen Ausdruck.
1992 erschienen die ersten Lieder im Buch „Wie wir feiern können“. Sie fanden dort in einfachen liturgischen Feiern ihren Platz. Bis heute sind 70 bis 80 Lieder veröffentlicht.
Ich verdanke Jörg Zink mit seinen Lieddichtungen sehr viel. Nie zuvor schuf ich Melodien zu geistlichen Versen. Nie zuvor fanden meine Melodien eine Heimat in so wunderbaren Worten. Der einmalige Liederzyklus wurde 1993 mit 54 Liedern abgeschlossen. Diese Einmaligkeit berührt mich. Darin liegt für mich ein großes Geheimnis, das es zu bewahren gilt. Danke, Jörg!
Hans-Jürgen Hufeisen, 2012
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